„Es schien so unwirklich, jetzt, wo doch die Pandemie nach der Welle im Winter endlich auf dem Rückzug war. Meinen ersten Impftermin hätte ich in der Woche darauf gehabt.“ Schöning packt in der Kanzlei noch Unterlagen zusammen, die er im Home-Office bearbeiten möchte. Doch so weit kommt er nicht mehr. „Binnen zwei Tagen war ich nur noch ein Elend. Die Zeit bis zum 12. April ist im Rückblick ziemlich nebulös.“ Seine Frau, zum Glück symptomfrei, blickt mit großer Sorge auf seinen Krankheitsverlauf. Die telefonische Auskunft des Coronanotdienstes empfiehlt den Hausarzt zu rufen. Nur dem energischen Eingreifen von Tochter und Ehefrau ist es zu verdanken, dass Schöning von seinem Hausarzt Dr. Gorski nach der häuslichen Untersuchung unverzüglich ins Krankenhaus eingewiesen wird. „Den Notarzt, der mich ins Krankenhaus gebracht hat, traf ich Wochen später wieder und er sagte mir, dass ich ja schon ziemlich neben der Spur gewesen sei. Aber ich entgegnete, ich hätte ja noch zugestimmt, dass Sie mich mit ins Krankenhaus nehmen können.“ Der Schalk sitzt Thomas Schöning inzwischen wieder im Nacken. Dass er zurückkommt, war lange nicht sicher. Nach der Einlieferung ins Krankenhaus wird er umgehend auf die Intensivstation gebracht und schnell in ein künstliches Koma gelegt und beatmet. „Heute weiß ich, dass mein Leben am seidenen Faden hing“, sagt Schöning mit Tränen in den Augen. Auch wenn man ihm optisch die durchgemachte Erkrankung nicht mehr ansieht, hat diese Zeit Spuren bei ihm hinterlassen. „Eigentlich habe ich erst beim Aufnahmegespräch für die Frührehabilitation realisiert, was alles medizinisch unternommen wurde, um mein Leben zu retten.“ Vieles, was vorher zum Leben selbstverständlich dazugehört, ist in Frage gestellt. „Ich konnte nicht mehr sprechen, nicht essen, nicht laufen, das musste ich alles neu lernen.“ Insgesamt liegt Schöning vier Wochen auf der Intensivstation.
Eine Phase ohne richtiges Zeitgefühl. Im Frühjahr ist es morgens um sieben etwa genauso hell draußen wie abends um sieben. „Ich musste oft fragen, welche Tageszeit es ist.“ An eine Pflegekraft kann er sich noch sehr gut erinnern, ein jüngerer Kollege, der ihm von Werder Bremen und den Baustellen der Innenstadt erzählt, so hat er das Gefühl, nicht komplett von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Denn solange er infektiös ist, dürfen ihn seine Angehörigen nicht besuchen. Aber nicht nur wache Phasen gibt es in dieser Zeit. Viele Albträume plagen Schöning: „Aus dem Stoff könnte ich locker drei Horrorfilme machen“. Ein Beispiel: Schöning träumt davon, das St. Joseph-Stift habe ihn nach Indonesien ausgeliehen. Zwischenzeitlich ist er fest davon überzeugt, nicht mehr in Bremen zu sein. Auch hat er schemenhafte Erinnerungen an einen Tag, an dem er versucht, sich seines Beatmungsschlauchs zu entledigen. „Nach einer Sedierung fragte man mich, ob ich einverstanden sei, wenn man meine Hände fixiert, damit das nicht wieder passiert. Ich war natürlich einverstanden.“
Sie sterben hier nicht, Herr Schöning, ich lasse Sie aus diesem Zimmer nicht anders raus als lebend.
Das Ringen des Körpers mit der schweren Erkrankung macht sich im Befinden von Schöning bemerkbar. „An einem Tag ging es mir so schlecht, dass ich sicher war, nun sterben zu müssen“, berichtet Schöning, „ich hatte kein Sprechventil im Beatmungssystem, deshalb gestikulierte ich zum Pfleger, ich zeigte auf das Kreuz über der Tür. Zunächst verstand er mich nicht, erst als ich eine Geste wie ein Schnitt durch den Hals machte, sagte er: `Sie sterben hier nicht, Herr Schöning, ich lasse sie aus diesem Zimmer nicht anders raus als lebend‘. Das hat mir so einen inneren Frieden gegeben. Überhaupt, wenn ich wach war, habe ich mich immer so aufgehoben, so umsorgt gefühlt.“
An einem anderen Tag hat er mit sich selbst Frieden geschlossen. „Ich dachte, wenn ich jetzt sterbe und mein Enkelkind niemals sehen werde, dann ist es eben so. Ich legte mein Leben in Gottes Hände.“ Der Gedanke ist erleichternd, so hatte er das Gefühl, keine Niederlage erleiden zu müssen, wenn er es doch nicht schaffen sollte. Doch noch entlastender ist die Aussage der Ärzt:innen und Pflegekräfte: „Es ist nicht Ihre Schuld, dass Sie sich angesteckt haben!“
Nach vier Wochen auf der Intensivstation ist das Schlimmste überstanden. Aber durch das lange Liegen hat sich seine Muskulatur zurückgebildet. „Am Anfang konnte ich kaum einen Becher mit Wasser halten, an Laufen war gar nicht zu denken.“ In der Geriatrie, wo das Team aus Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften und Therapeut:innen eng zusammenarbeitet, geht es aber Schritt für Schritt voran. „Zu Beginn war mein Scoring bei 10, da war fast gar nichts selbstständig möglich und ich konnte es mir auch gar nicht vorstellen. Die Mitarbeitenden waren aber so motivierend. Immer kam jemand mit einem Lächeln und den Worten, heute machen wir ein paar Schritte‘.“ Nach vier Wochen Ernährung durch eine Magensonde muss auch das Schlucken wieder geübt werden. Schöning erinnert sich: „Die Logopädin wollte partout, dass ich einen Löffel Joghurt esse. Ich hasse aber Joghurt. Schließlich einigten wir uns darauf, dass ich einen Löffel Marmelade schlucke. Die war aber so furchtbar süß und dann war ein Stückchen Erdbeere darin, das schien mir viel zu groß, das blieb auf dem Löffel. Ich habe mich dann aber später bei der Dame entschuldigt, ich war wohl etwas barsch im Ton“.
Auf der Normalstation kann ihn auch endlich seine Frau besuchen. Hier erst wird ihm klar, welche Sorgen sich seine Lieben um ihn gemacht haben. „Meiner Tochter habe ich die Schwangerschaft schwerer gemacht, als das sein sollte, und meine Frau hat so gelitten, das tut mir aus heutiger Sicht so leid, aber ich kann es ja nicht ändern.“ Hier auf der Normalstation setzt er sich auch erstmals mit der diffusen Zeit in der Intensivstation auseinander. Dabei hilft ihm das Tagebuch, das die Pflegekräfte dort für ihn geschrieben haben. Gerade weil auch kein Angehöriger kommen konnte, gibt ihm das Buch einen Einblick in diese Zeit. „Ich habe wirklich geflennt. Ich bin so dankbar für die Mühe, die die Pflegekräfte sich gegeben haben. Wie sie auch dafür noch Zeit aufbringen, ist mir kaum vorstellbar. In den Texten liegen so viel Zuwendung und Freundlichkeit…“, berichtet Schöning ergriffen. Das Buch wird ihn noch länger begleiten, es soll die Lücken dieser Wochen ein wenig schließen.
Dass sein Genesungsprozess so gut voranschreitet, liegt vor allem am Kopf, meint Schöning: „Am Anfang waren es die Therapeutinnen und Pflegekräfte, die mich motiviert haben, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass es geht. Doch dann hat sich ein Schalter bei mir umgelegt, mein Willen war wiedererstarkt, ich wollte mehr, als ich konnte. Von da an habe ich ein anderes Tempo vorgelegt.“
Auch der Bereich der Nahrungsaufnahme muss sich für ihn neu einspielen. Vier Wochen wird er durch eine Sonde ernährt, danach ist erstmal kein Appetit da. Und als dieser wiederkommt, stimmt der Geschmack nicht. Die verbreitete Nebenwirkung einer Covid-19-Infektion, der Verlust des Geschmacksinns, hat auch ihn getroffen. „Das habe ich erst auf Station gemerkt. Der Pfefferminztee schmeckte nach Bergamotte, wirklich furchtbar, aber es lag nicht am falschen Teebeutel. Zum Glück ist es fast alles wieder beim Alten. Spargel und Schinken waren erfreulicherweise nicht betroffen“, scherzt der Senior.
Das Schwierigste für den bis dato fitten Rechtsanwalt ist aber, abhängig geworden zu sein. Schöning bekräftigt: „Die Leichtigkeit des Seins geht verloren, wenn man von einen Tag auf den anderen um alles bitten muss.“ Er habe alles mitgemacht, was medizinisch angeordnet wurde. Um ein klein wenig das Gefühl von Selbstbestimmung zu bewahren, aber manchmal versehen mit einem „einen Moment noch“, „können wir das gleich machen“ oder „warten Sie noch einen Augenblick“.
So empfindet er eine anschließende Reha auch als bitter nötig – denn am Anfang ist der Gang auf der Treppe bereits nach vier Stufen beendet. Mit geduldiger Zuversicht und Sicherheit durch einen Rollator schafft er nach einer Woche immerhin schon die Strecke den kompletten Stationsflur entlang.
Den Aufenthalt in der geriatrischen Tagesklinik empfindet Schöning als besonders wichtig: „Hier wird Wert auf so viele Kleinigkeiten gelegt. Wie man einen Fuß vor den anderen setzt, das ist ja kein Automatismus mehr, deshalb ist es wichtig, dass auch so kleine Dinge genau beäugt werden, für meine Balance und das Sicherheitsgefühl war das Gold wert!“
Hier wird so viel Wert auf Kleinigkeiten gelegt. Wie man einen Fuß vor den anderen setzt, das ist ja kein Automatismus mehr.
Sicher sei es dann nur eine Trainingsfrage, wie viele Treppen man gehen kann, ohne außer Puste zu geraten. Das Luftbekommen sei jedenfalls schon deutlich besser geworden. Überhaupt: In Bremen legt Schöning die kürzeren Strecken eh alle mit dem Fahrrad zurück, das habe er auch in Zukunft vor. Und mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen. „Corona hat es mir abgenommen und leicht gemacht, die Berufstätigkeit ausklingen zu lassen. Sonst hätte ich mich wohl über mehrere Jahre nach und nach zurückgezogen. Mit der Vollbremsung durch Corona wird es jetzt deutlich schneller gehen. Meine Mitarbeiterinnen und Kollegen haben es in meiner Abwesenheit ja schon gezeigt, dass es auch ohne mich geht“, schmunzelt Schöning. Und inzwischen gibt es ja auch ein Enkelkind, das sich auf die Besuche seines Opas freut.
„Ich bin so dankbar dafür, dass sich die Menschen in diesem Haus so kompetent und liebevoll um mich gekümmert haben. Das gilt für alle Berufsgruppen. Auch das Essen hat seinen Teil beigetragen. Mein Leben hing am seidenen Faden, das weiß ich. Sie haben mich nicht losgelassen und mir ein zweites Leben geschenkt. Danke!“